Deutschland, Einwanderungsland! – 60 Jahre Deutsch-Türkisches Anwerbeabkommen
Am 30. Oktober 2021 jährt sich zum 60. Mal die Ratifizierung des Deutsch-Türkischen Anwerbeabkommens zur Rekrutierung von Arbeitskräften aus der Türkei. Für die Berliner Arbeiterwohlfahrt (AWO) legte das Abkommen den Grundstein für die heutige „Migrationssozialberatung“.
Unter dem Dach der AWO organisierten Gewerkschafter in den 1960ern die ersten Beratungen auf Türkisch für ihre Landsleute. Beratende halfen den Neu-Berliner*innen sich vor Ausbeutung zu schützen und ihre sozialen Rechte zu wahren. Diese Arbeit prägte Zuwanderer*innen so nachhaltig, dass bis heute der Begriff „Türk Danıș“ – eigentlich neutral für „Beratungsstellen für Türken“ – in der türkischen Community in Berlin als Synonym für „AWO-Beratungsstellen“ verwendet wird.
Arbeitende „Gäste“
Die Bezeichnung „Gastarbeiter“ ist nicht ohne Grund umstritten. Dennoch verrät die landläufige Bezeichnung, wie das Abwerbeabkommen ursprünglich verstanden wurde. Anfangs rekrutierte die Bundesrepublik Deutschland ausländische Arbeitnehmer*innen nur befristetet für den Arbeitsmarkt – bis Unternehmen protestierten. Das immer neue Einarbeiten neuer Kräfte galt als unökonomisch.
Allein aus der Türkei bewarben sich von 1961 bis zum Anwerbestopp 1973 ca. zweieinhalb Millionen Menschen. 625 000 kamen nach Deutschland.
Frauen als Vorreiterinnen
In Berlin fällt das Abkommen zusammen mit dem Mauerbau 1961. Durch den plötzlichen Wegfall von Arbeitenden aus der DDR fehlten der BRD nun Arbeitskräfte. Das erklärt vielleicht, warum viele Bewerber*innen aus der Türkei nach Berlin kamen. Bis heute wenig bekannt ist, dass es zuerst vor allem Frauen waren, die zum Arbeiten nach Westdeutschland reisten. Frauen, die in der Elektroindustrie (z. B. bei Osram oder Siemens) Beschäftigung fanden und später ihre Ehemänner nachholten. Die Kinder lebten oft zunächst bei Verwandten in der Türkei und wurden erst beim Anwerbestopp 1973 im Rahmen von Familienzusammenführungen nachgeholt. Viele Familien blieben.
Mehrheitsgesellschaft hat Nachholbedarf bei Anerkennung und Respekt
Obwohl ihr Lebensmittelpunkt schon lange in Deutschland liegt und trotz der Verdienste am wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands sehen sich ehemalige „Gastarbeitende“ und nachfolgende Generationen hierzulande immer noch Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Anfeindungen ausgesetzt. Rassistische und als „fremdenfeindlich“ markierte Anschlag, wie in Hanau, treffen die Einwanderungsgesellschaft tief.
„Es wird Zeit, dass die Leistung der ersten Generation Eingewanderter gesellschaftlich angemessen mit Respekt und Wertschätzung gewürdigt wird. Einwanderer*innen haben nicht nur mit ihrer Arbeitskraft zum ökonomischen Erfolg unseres Landes beigetragen, sondern das gesellschaftliche Leben bereichert und geprägt. Sie sind Teil Berlins und unserer Stadtgeschichte. Die Berliner AWO wird sich weiterhin für Respekt, Gleichberechtigung und Teilhabe in der Berliner Gesellschaft einsetzen – für die Menschen mit türkischer Migrationsgeschichte, aber auch für alle anderen, die neu ankommen und bleiben“, so Oliver Bürgel, AWO-Landesgeschäftsführer.